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Drei Tage waren vergangen, seit das Forensiklabor eine Übereinstimmung der Fingerabdrücke auf Andrew Volkovs Putzkarren und denen, die vier Jahre zuvor von Vincent Cardonis linker Hand abgenommen worden waren, festgestellt hatte. Die Abdrücke, die man in Volkovs Wohnung fand, entsprachen ebenfalls denen des Arztes. Gründliche Durchsuchungen seines Spinds im Krankenhaus und seiner Wohnung ergaben keinen Hinweis auf Cardonis Aufenthaltsort.
Während Mike Greene auf die neuesten Ermittlungsergebnisse in dem Fall wartete, vertrieb er sich die Zeit, indem er eine Schachpartie zwischen Judit Polgar und Viswanathan Anand bei einem Turnier analysierte, das vor kurzem in Madrid stattgefunden hatte. Er studierte eben die Schlüsselstellung des Spiels, als das Telefon klingelte. Greene drehte sich mit seinem Stuhl herum und griff zum Hörer.
»Mike Greene hier.«
»Hi, Mike. Hier ist Roy Bishop.«
Bishop war ein arroganter Strafverteidiger, der in dem starken Verdacht stand, seinen Klienten ein wenig zu freundschaftlich verbunden zu sein.
»Was gibt's, Roy?«
»Ich rufe im Auftrag eines Mandanten an, eines Mannes, von dem ich weiß, dass Sie mit ihm reden wollen. Er möchte sich mit Ihnen treffen.«
»Um wen handelt es sich?«
»Vincent Cardoni.«
Greene richtete sich auf.
»Wenn Sie wissen, wo Cardoni steckt, sollten Sie es mir besser sagen. Es kann Sie die Zulassung kosten, wenn Sie einem Flüchtigen Unterschlupf gewähren.«
»Immer mit der Ruhe, Mike! Ich habe mit Cardoni nur telefoniert. Ich habe keine Ahnung, wo er ist.«
»Will er sich stellen?«
»Er hat mir sehr deutlich zu verstehen gegeben, dass er sich mit Ihnen nur treffen will, wenn er die schriftliche Garantie erhält, dass er nicht verhaftet wird, sobald er auftaucht, und dass nichts, was er sagt, gegen ihn verwendet wird.« »Das ist unmöglich. Der Mann ist ein Serienmörder.«
»Er behauptet, dass er das nicht ist. Aber auch wenn er einer ist -nach dem, was er mir gesagt hat, haben Sie keine Gründe, ihn verhaften zu lassen.«
Mike Greene sah blass und abgespannt aus, als Alex DeVore und Sean McCarthy am nächsten Morgen in sein Büro kamen.
»Vincent Cardoni wird in einer halben Stunde hier sein«, verkündete Greene. Er klang erschöpft.
DeVore machte ein verblüfftes Gesicht. McCarthy fragte: »Er stellt sich selber?«
Greene schüttelte den Kopf. »Er kommt nur her, um zu reden. Ich musste ihm garantieren, dass wir ihn nicht festnehmen.«
»Sind Sie verrückt?«, rief DeVore.
»Ich war gestern Abend bis zehn im Büro und bin schon wieder seit sieben hier und habe die Geschichte mit Jack, Henry Buchanan und Lilian Po durchgekaut«, erwiderte Greene und meinte den Obersten Bezirksstaatsanwalt von Multnomah County, seinen Ersten Stellvertreter für Strafrecht und die Leiterin der Revisionsabteilung. »Wir haben keine Möglichkeit, ihn zu verhaften.«
»Er hat in dem Farmhaus vier Menschen umgebracht«, sagte McCarthy.
»Er hat sein Aussehen verändert und gelogen, um einen Job im St. Francis zu bekommen, damit er den Kaffeebecher, das Skalpell und die Kleidung stehlen konnte«, argumentierte DeVore. »Er hat auch all diese Leute in Milton County umgebracht.«
»Das ist alles nicht stichhaltig. Cardoni hatte zwar Zugang zu den Gegenständen, die wir im Farmhaus gefunden haben, aber wir können ihm nicht beweisen, dass er sie tatsächlich gestohlen und dort deponiert hat. Es gibt kein einziges Indiz, das Cardoni mit dem Farmhaus oder den Opfern in Verbindung bringt. Glaubt mir,
Jungs, wir haben das immer und immer wieder durchgekaut. Ich bin genauso frustriert wie ihr.«
»Was ist mit der Sache in Milton County? Er steht doch dort immer noch unter Anklage«, sagte McCarthy.
Mike machte ein mürrisches Gesicht.
»In Milton County wurde ein Riesenmist gebaut, ein ganz unglaublicher Bockmist. Der Richter unterzeichnete eine Anordnung, mit der er Cardonis Antrag auf Nichtzulassung stattgab, und legte sie in der Geschäftsstelle des Gerichts zu den Akten. Fred Scofield hatte dreißig Tage Zeit, um gegen diese Anordnung Einspruch zu erheben, wenn er nicht wollte, dass sie rechtsgültig wurde. Während dieser dreißig Tage verschwand Cardoni, und seine Hand wurde in der Hütte gefunden. Alle dachten, er sei tot, und Scofield vergaß, seinen Einspruch zu erheben. Das heißt, Richter Brodys Anordnung ist rechtsgültig, und kein Beweisstück, das in der Berghütte oder in Cardonis Haus in Portland sichergestellt wurde, darf in einem Prozess verwendet werden. Ohne diese Beweise gibt es keinen Milton-County-Fall.«
»Das glaube ich einfach nicht«, sagte McCarthy. »Soll das heißen, es gibt keine Möglichkeit, Cardoni ins Gefängnis zu stecken? Er hat mindestens ein Dutzend Leute auf dem Gewissen.«
»Solange Sie keinen Beweis haben, der vor Gericht zulässig ist, ist das reine Spekulation. Ich kann niemanden nur auf eine Vermutung hin verhaften.«
»Verdammt, es muss doch einen Weg geben!«, murmelte McCarthy in sich hinein. Plötzlich hellte sich sein Gesicht auf. »Fiori! Cardoni hat Dr. Fiori angegriffen. Wir können ihn wegen tätlichen Angriffs verhaften.«
»Ich fürchte nicht. Cardoni sagt, Fiori habe ihn verfolgt. Fiori gibt zu, Cardoni mit einem Skalpell in den Keller gefolgt und als Erster tätlich geworden zu sein. Cardoni plädiert auf Notwehr. Hört zu, Jungs, wir sind all diese Argumente unzählige Male durchgegangen. Es kommt immer dasselbe raus. Es gibt in diesem Büro keinen Menschen, der Vincent Cardoni nicht für ein mörderisches Monster hält, aber die traurige Wahrheit ist, dass wir nicht genug Beweise haben, um ihn festzuhalten. Wir haben Bishop bereits die schriftliche Zusicherung gefaxt, dass wir Cardoni binnen vierundzwanzig Stunden nach diesem Treffen nicht verhaften werden.«
»Wenn wir nicht genügend Beweise haben, um ihn zu verhaften, warum will sich Cardoni dann mit Ihnen treffen?«, fragte DeVore.
Bevor Greene antworten konnte, summte die Gegensprechanlage, und die Sekretärin meldete, dass Dr. Cardoni und Roy Bishop im Vorzimmer warteten. Greene bat sie, die beiden ins Konferenzzimmer zu führen. Dann wandte er sich wieder an DeVore.
»Das können Sie ihn selber fragen.«
Vincent Cardoni nahm Mike Greene gegenüber an dem langen Konferenztisch Platz. Auf seiner Wange prangte eine mit mehreren Stichen vernähte Wunde. Roy Bishop, ein großer Mann mit gestylten braunen Haaren, setzte sich neben seinen Mandanten. Sean McCarthy musterte den Chirurgen eingehend. Er konnte es kaum glauben, dass dies der Mann war, den er vor vier Jahren verhaftet hatte. »Guten Morgen, Mr. Cardoni«, sagte McCarthy.
»Ich sehe, Sie sind immer noch so höflich wie damals bei meiner Verhaftung.«
»Ich bin zwar ein bisschen grauer geworden, habe mich aber ansonsten nicht verändert. Sie allerdings schon.«
Cardoni lächelte.
»Lassen Sie uns doch gleich zur Sache kommen, Roy!«, sagte Greene. »Ich möchte sehr gerne wissen, warum Ihr Mandant mit mir reden will.«
»Das ist auch für mich ein Geheimnis, Mike. Dr. Cardoni hat mir seine Gründe nicht anvertraut.«
»Ich hoffe, Sie haben vor zu gestehen, Doktor«, sagte Greene. »Das würde uns eine Menge Schwierigkeiten ersparen.«
»Es gibt für mich nichts zu gestehen. Im Gegensatz zu dem, was Sie glauben, habe ich keinen Menschen umgebracht. Justine hat diese Menschen im Farmhaus ermordet, und sie ist auch verantwortlich für die Opfer in Milton County.«
»Und wer ist verantwortlich für die Amputation Ihrer Hand?«, fragte McCarthy.
Cardoni hob die rechte Hand und schob den Ärmel zurück. Jeder im Raum starrte auf die gezackte Narbe an seinem Handgelenk.
»Das habe ich selber getan«, sagte Cardoni.
»Plastische Chirurgie, eine falsche Identität und Selbstverstümmelung? Das ist ein ziemlich extremes Verhalten für einen Unschuldigen.«
»Ich war verzweifelt. Ich sah keine andere Möglichkeit mehr, um am Leben zu bleiben.«
»Wollen Sie uns das erklären?«, fragte Greene.
Cardoni sah den Staatsanwalt und dann die beiden Detectives an.
»Ich sehe, dass Sie mir nicht glauben, aber ich schwöre, dass ich die Wahrheit sage. Justine war Clifford Grants Partner bei dem Schwarzhandel mit Organen. Sie tötete ihn und schob es dann mir in die Schuhe, damit Martin Breach dachte, ich sei derjenige, der ihn betrogen hat.«
Cardoni atmete tief durch. Als er weiter redete, starrte er die Tischplatte an.
»Sie haben Justine gesehen. Sie ist schön und intelligent, und sie war mir immer zwei Schritte voraus. Justine kannte jede meiner Schwächen. Sie wissen, ich bin kein Heiliger. Der Druck während des Medizinstudiums war zu viel für mich. Ich habe alle möglichen Drogen genommen um zurechtzukommen, und sie hätten mich beinahe zerstört. Der Kampf gegen meine Sucht war sehr anstrengend, und es war sehr leicht, ihr wieder zu erliegen, als Justine mir Kokain kaufte. Ich merkte überhaupt nicht, dass sie versuchte, mich kaputtzumachen. Bis es zu spät war. Ich wusste auch nicht, warum sie sich so intensiv mit Clifford Grant abgab, bis ich von Frank Jaffe erfuhr, dass Grant für Martin Breach Spenderorgane besorgt hatte. Er erzählte mir von der Razzia auf dem Flugplatz. Justine war Grants stummer Teilhaber. Sie drehte die ganze Sache aber so, dass Breach dachte, ich sei es. Kurz nachdem Frank mich aus dem Gefängnis geholt hatte, überfielen mich zwei von Breachs Männern. Ich konnte sie überwältigen, und ich zwang einen von ihnen, mir zu sagen, warum sie mich verfolgt hatten. Am selben Tag erfuhr ich auch, dass der Bezirksstaatsanwalt von Milton County versuchte, eine Neuverhandlung des Antrags auf Nichtzulassung zu erreichen, und dass er gute Chancen hatte, mich wieder ins Gefängnis zu stecken. Ich war voll mit Koks, und ich dachte mir, dass mich entweder Martin Breach zu Tode foltern oder ich in der Todeszelle landen würde. Mein einziger Ausweg war, jeden davon zu überzeugen, dass ich tot sei.«
»Und deshalb haben Sie sich die Hand abgeschnitten?«, bemerkte McCarthy.
Cardoni starrte ihn an. Er wirkte wütend.
»Stellen Sie sich mal vor, Sie werden eines Verbrechens beschuldigt, das Sie nicht begangen haben! Der Staat Oregon will Ihnen eine tödliche Injektion verpassen und ein fieser Verbrecher findet, dass dieser Tod noch nicht grausam genug ist. Glauben Sie nicht auch, dass Sie da verzweifelt nach Maßnahmen suchen würden, um Ihr Leben zu retten?«
»Ich habe zu viel mit echten Problemen zu tun, um mich mit hypothetischen herumzuschlagen, Doktor. Vielleicht können Sie mir ja bei der Lösung von einem dieser Probleme helfen. Haben Sie einen Kaffeebecher und ein Skalpell mit Dr. Castles Fingerabdrücken darauf gestohlen und in dem Farmhaus deponiert, um sie zu belasten?«
»Haben Sie mir denn nicht zugehört? Sie ist wahnsinnig. Sie ist eine Serienmörderin. Sie haben sie doch jetzt. Ich flehe Sie an, lassen Sie sie nicht davonkommen!«
»Dr. Cardoni«, sagte Greene. »Ich habe diesem Treffen zugestimmt in der Hoffnung, dass Sie sich stellen oder zumindest Ihre Schuld eingestehen. Stattdessen tischen Sie uns eine Geschichte auf, die Sie nicht mit dem geringsten Beweis stützen können.«
Cardoni ließ den Kopf in die Hände sinken. Greene fuhr fort.
»Ich will ganz offen mit Ihnen sein. Ich glaube Ihnen kein Wort. Ich glaube, Sie wollen aus ganz persönlichen bizarren Gründen Dr. Castle all diese Verbrechen anhängen, und Sie haben dieses Treffen arrangiert in der Hoffnung, mich so beeinflussen zu können, dass ich Ihren Plan, eine unschuldige Frau in die Todeszelle zu schicken, unterstütze. Doch das wird nicht funktionieren.«
»Wenn Sie Justine freilassen, wird sie wieder töten. Sie ist die gefährlichste Mörderin, mit der Sie es je zu tun hatten. Sie müssen mir glauben!«
»Aber das tue ich nicht. Wenn Sie sich nicht stellen wollen oder ein Geständnis ablegen, ist dieses Treffen beendet.«